Der Ankereffekt kommt zum Tragen, wenn wir numerische Urteile fällen, ohne dass wir von vornherein ein „richtiges“ Ergebnis kennen. Numerisch hohe Anker bewirken, dass wir numerisch höhere Entscheidungen treffen. Numerisch niedrige Anker bewirken, dass wir numerisch niedrigere Entscheidungen treffen.
Die größte Bedeutung hat der Ankereffekt im Strafprozess bei der Strafzumessung. So setzt die Staatsanwaltschaft, die in der Regel in der strafgerichtlichen Hauptverhandlung zuerst plädiert, einen Anker für die Strafzumessung durch ihren Strafantrag. Viele Staatsanwälte nutzen den Ankereffekt, in dem sie eine hohe Strafforderung stellen, in der Hoffnung, das Gericht möglichst nahe an diese Strafforderung heranzuziehen. Die Verteidigung, die nach der Staatsanwaltschaft plädiert, versucht natürlich bei einer Strafmaßverteidigung durch eine geringere Strafforderung einen Gegenanker zu setzen. Aber: der erste Anker ist der stärkere!
Daher versuchen gute Strafverteidiger im Rahmen von Strafmaßverteidigungen in Rechtsgesprächen, also vor dem Plädoyer, eine erste geringe Strafforderung ins Spiel zu bringen. Das setzt den ersten Anker, der der wirksamste ist. Diese Strategie gelingt allerdings nur, wenn die Strafmaßforderung nicht völlig unrealistisch ist. In diesem Fall wird der Anker nicht ernst genommen und bleibt wirkungslos. Am besten ist es also einen ehrgeizigen, aber realistischen ersten Anker zu setzen.